Ich lebe in der Stadt. Hier ist das Leben hektisch. Wir stehen oft unter Zeitdruck. Und sollte mal kein Zeitdruck bestehen, hetzen wir aus Gewohnheit durch die Straßen. In der Warteschlange stehen oder auf den Bus warten bedeutet eher ein Zeitverlust als ein Zeitgewinn. Und wenn wir versuchen, innerlich ruhig und entspannt zu bleiben, lassen wir uns oft vom hektischen Geschehen anstecken.
Eine 2016 durchgeführte Forsa-Umfrage zeigt, dass sechs von zehn Menschen ihr Leben als stressig empfinden. Viele davon auch dauerhaft. Unabhängig ob privat oder beruflich. Dass die Landbevölkerung weniger unter Druck steht als die Städter, lässt sich laut Umfrage nicht mehr bestätigen. In kleineren (bis 20.000 Einwohner), mittleren (bis 100.000) und großen Orten (bis 500.000) empfinden 60% eine Zunahme an Stress.
Stress bedeutet dabei eine hohe Anspannung, eine niedrige Reizschwelle, zu viele Gedanken zur gleichen Zeit bzw. in Gedanken schon bei der nächsten Aktivität zu sein. Die Umfrage benennt auch die Ursachen. Neben der Arbeit als Hauptursache sind dies insbesondere die eigenen Ansprüche an sich selbst, zu viele Verpflichtungen in der Freizeit und die ständige digitale Erreichbarkeit.
Wieso machen wir uns den Stress?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, weshalb diese Ursachen überhaupt entstanden sind? Warum sind die Ansprüche an uns selbst so hoch? Warum haben wir zu viele Verpflichtungen in der Freizeit? Und warum sind bzw. wollen wir ständig erreichbar sein? Kurz gesagt: Warum machen wir uns überhaupt den Stress? Wieso erlauben wir uns selbst keine Ruhe? Fühle ich mich ohne Stress nicht gut genug?
In einigen Bereichen unserer Gesellschaft ist Stress zum Teil zu einem Statussymbol geworden. Wer Stress hat, hat viel zu tun und ist wichtig. Das klingt nach Wettbewerb und höher, schneller, weiter. Der Wissenschaftsautor Bas Kast hat dieses gesellschaftliche Bild mit folgender Situation verglichen.
Stellen wir uns ein volles Fußballstadion vor. Alle Zuschauer sitzen und schauen sich das Spiel an. Plötzlich steht ein Zuschauer auf. Er erhebt sich etwas von den anderen. Er verschafft sich eine bessere Sicht und erhöht gewissermaßen seinen Status. Die Zuschauer, die hinter ihm stehen, stehen nun auch auf, aber nur um das Spiel weiter sehen zu können. Nach einer gewissen Zeit stehen alle Zuschauer im Stadion. Sie stehen nicht besser da als alle anderen, aber sie können so zumindest mithalten und das Spiel weiter sehen. Würden alle Zuschauer sitzen, würden ebenfalls alle etwas sehen können, sogar in einer viel bequemeren Art und Weise.
Um in unserer heutigen Gesellschaft einfach nur mithalten zu können, müssen wir stehen, auch mal auf Zehenspitzen. Es herrscht ein gewisser Erwartungsdruck, andauernd Gas zu geben und ständig erreichbar zu sein. Nur um mitzuhalten. Wer sich stattdessen einfach mal für eine Zeit lang hinsetzen möchte, spürt schnell, wie auffällig dieses Verhalten ist und Fragen bei den Mitmenschen aufwirft.
Während der Corona-Krise entstand der Eindruck, als wenn sich alle endlich einmal hingesetzt haben, bzw. sich auf das Wesentliche konzentrieren können. Das hektische Geschehen wurde ausgebremst. Viele hatten die Möglichkeit, sich im Müßiggang zu üben. Sich nicht nur nach Ruhe zu sehnen, sondern ihr auch mal nicht auszuweichen. Einmal tief durchzuatmen und zu überlegen, was man eigentlich den ganzen Tag so macht. Sich einfach darin zu üben, sich selbst genug zu sein. Auch ohne große Aufgaben und Projekte.
Wollen wir die ganze Zeit stehen?
Vielleicht hören wir in diesen Zeiten das Bedürfnis nach Ruhe etwas lauter. Vielleicht hetzen wir nicht einfach in unserer Geschäftigkeit weiter, sondern hören genauer hin. In meinem Umfeld beobachte ich viele Menschen, die gewisse Dinge in ihrem Leben kritisch hinterfragen und auch ändern.
Oder wollen wir weiter die ganze Zeit stehen? Ist es nicht viel bequemer, sich mal hinzusetzen und einen Blick auf die wirklichen Bedürfnisse zu werfen? Horchen wir in uns hinein und prüfen, was wir wirklich wollen. Oft ist es nicht zwingend das, wohin der Erwartungsdruck, das Wirtschaftssystem oder das Streben nach Geld uns hingebracht haben. Vielleicht ist es eher ein selbstbestimmter Weg hin zu mehr Freiheit, Einfachheit und mehr Ruhe. Einfachheit nicht im Sinne von langweilig und anspruchslos, sondern im Sinne von elementaren und wesentlichen Dingen im Leben.
„Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken, als in der Befreiung von den alten.“ (John Maynard Keynes)
Der Ökonom John Maynard Keynes (1883 – 1946) prognostizierte für das Jahr 2030 – dank des technologischen Fortschritts – eine Wochenarbeitszeit von nur noch 15 Stunden. Diese 15-Stunden-Woche sei völlig ausreichend, um die Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Es ist eine interessante Frage, warum die Menschen heutzutage nicht deutlich mehr Freizeit haben, sondern noch immer so hart und lange arbeiten. Warum hat sich Wohlstand hauptsächlich in mehr Güter niedergeschlagen und nicht in mehr Freizeit?
Die beiden Nobelpreisträger George Akerlof und Robert J. Shiller haben sich in ihrem Buch „Phishing for Phools“ mit dieser Frage auseinandergesetzt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die freien Märkte zahlreiche neue Bedürfnisse für uns erfunden haben. Sie entwickeln fortlaufend neue Methoden, die uns die Dinge verkaufen, die wir nicht brauchen. An zahlreichen Fallbeispielen zeigen sie, dass Manipulation und Täuschung feste Bestandteile des Marktes sind. Und was machen wir? Wir erliegen immer wieder den Versuchungen, jagen den materiellen Gütern hinterher und benötigen dafür natürlich etwas Kleingeld.
Ruhe und Gelassenheit lohnen sich
Vielleicht verändert sich die Gesellschaft und findet einen reflektierten Weg zu mehr Gelassenheit und Ruhe. Zur Rückbesinnung auf klassische Werte wie Familie, Dankbarkeit und Nächstenliebe. Das klingt gut, kann aber auch nur eine Hoffnung bleiben, wenn wir uns selbst nicht ändern (siehe mein Artikel: Die Kraft des Guten). Es liegt in unserer Hand. Wie wollen wir sein? Mit Gelassenheit und Geduld durch den Alltag gehen oder weiterhin beschleunigen?
Als Mitglied dieser Gesellschaft ist dafür eine bewusste Entscheidung und Aktivität notwendig. Vielleicht ein Tag in der Woche, der freigehalten wird. Ein Tag, um zur Ruhe zu kommen. An dem Kraft getankt wird. An dem wir uns erlauben, einfach mal nichts zu tun. Ein Tag, an dem es leise wird und die äußere Ruhe vielleicht auch einer inneren Stimme weicht, die vorher überhört wurde. Es bedarf auch Mut, sich der Stille auszusetzen.
Immer mit der Ruhe.